Zusammenfassung zum Vortrag von Prof.in Dr.in Christine Baur

Schulische Integration von Geflüchteten im europäischen Vergleich

Der Vortrag stellt Ergebnisse der Studie „Integration von neu zugewanderten und geflüchteten Kindern und Jugendlichen in die Schulsysteme der europäischen Aufnahmeländer Frankreich, Deutschland und Dänemark“ vor. Das Forschungsprojekt untersucht im Rahmen international vergleichender Erziehungswissenschaft die Herausforderungen bei der schulischen Integration von Geflüchteten.

Methodisches Vorgehen

In allen drei Ländern wurden die beforschten Schulen und Institutionen nach den Vergleichskriterien segregiertes Quartier, hoher Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund und/oder Sonderbeschulung für Schüler*innen ohne Kenntnisse in der Landessprache bzw. Geflüchtetesowie Beschulung in Notunterkünften, (das heißt in Systemen, in denen die Schulpflicht nicht greift,) ausgewählt. Forschungsleitend waren für alle Länder folgende Fragen:


Welche pädagogischen Herausforderungen zeigen sich bei der Integration von Geflüchteten und welche funktionierenden pädagogischen Richtlinien und Maßnahmen sind zu erkennen?

Gibt es multiprofessionelle Kooperationen (Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen, psychologisches oder medizinisches Personal), die eine wesentliche Rolle für die Qualität der „Schule als sicherer Ort“ (Schulze/Spindler, 2017) spielen?

Welche länderspezifischen Unterschiede zeigen sich?

Welche gelingenden Aspekte der französischen und dänischen bildungspolitischen Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen können auf Deutschland, bzw. auf die Bildungspolitiken und Integrationsprozesse einzelner Bundesländer, übertragen werden?


Insgesamt wurden 48 Expert*innen aus der Bildungsverwaltung, Schulleitungsteams, Lehrer*innen sowie aus der Schulsozialarbeit und in Frankreich auch aus der Krankenpflege befragt.

Ergebnisse des Vergleichs

Vergleich der bildungspolitischen Ausgangslage

In Frankreich zeigt sich in den Schulen die Erfüllung der staatlichen Aufgabe, Chancengleichheit im Sinne der republikanischen Werte durch Förderung der Individuen herzustellen. In Deutschland wird im Rahmen des meritokratischen Prinzips Chancengleichheit durch das Erlernen der Landessprache hergestellt. In Dänemark zeigt sich statt Chancengleichheit ein Ansatz von Chancengerechtigkeit in einer höheren und umfassenderen Förderung der neu ankommenden Schüler*innen, zum Beispiel bis hin zur Akzeptanz von Englisch als vorübergehende Bildungssprache.

Während in Deutschland häufig die Separation nach Sprachkenntnissen erfolgt (in Niedersachsen weniger auf der strukturellen, sondern eher auf der informellen Ebene), werden in Frankreich und Dänemark die Fachkenntnisse priorisiert – sowohl bei der Einstufung als auch im Unterricht. In Frankreich erfolgt die Sprachförderung ausschließlich in den Sprachlernklassen, dagegen gibt es in Deutschland zusätzliche Ressourcen durch Programme, die dann greifen, wenn ein überdurchschnittlicher Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund an Schulen gemessen wird oder Sprachtests ausschlaggebend sind. In Dänemark gibt es zusätzliche Unterstützung durch die Kommunen, die mit Bildungsbüros in der Schule vertreten sind.

Ein deutlicher länderspezifischer Unterschied zeigt sich im Umgang mit dem Aufenthaltsstatus, der in Frankreich zwar die Ausgangslage, nicht aber den Schulalltag bestimmt. Während dort die Befragung nach dem aufenthaltsrechtlichen Status ein Tabu darstellt, wird die soziale Herkunft in Deutschland in Begründungszusammenhänge zu schulischen Schwierigkeiten eingebettet. In Dänemark hingegen ist der Umgang mit dem Migrationshintergrund bzw. mit Sprachbarrieren regelgeleitet, indem darauf in der Kommunikation Rücksicht genommen wird. Es zeigt sich außerdem ein starker Unterschied zwischen der restriktiven Integrationspolitik des Landes und den Kommunen. Das Laizitätsgebot zeigt sich in Frankreich als konfliktvermeidende Strategie im schulischen und außerschulischen Alltag.

Vergleich der beruflichen Herausforderungen – Schwerpunkt Erziehungsberechtigte

Unter beruflichen Herausforderungen verstehen die befragten Akteur*innen in allen drei Ländern mit den meisten Nennungen den Umgang mit Erziehungsberechtigten. Darunter werden unter anderem kulturelle und religiöse Konflikte mit Eltern verstanden. In Deutschland beeinflussen sie laut der Befragten die Kommunikation. In Dänemark werden keine Konflikte benannt, sondern Unterschiede als Herausforderung betont, ihnen mit Anerkennung zu begegnen. In Frankreich wird der Laizismus als konfliktvermeidend bewertet und der Einbezug von Erziehungsberechtigten in Lösungsprozesse als Standard gesehen.

Der Unterschied ist, dass es in Deutschland ein Spannungsverhältnis zwischen Anerkennung der Erziehungsberechtigten und negativen Zuschreibungsprozessen gibt und in Frankreich die Zusammenarbeit mit Erziehungsberechtigten als primäres Ziel der Schulsozialarbeit gesehen wird. Eine ausgeprägte Bildungs- und Erziehungspartnerschaft in Kooperation aller beteiligten Professionen zeigt sich nur in Dänemark. An niedersächsischen Schulen wird der Umgang mit Erziehungsberechtigten von vielen schulischen Akteur*innen als besondere Herausforderung insbesondere durch Sprachbarrieren beschrieben. Die Schulsozialarbeit betont dagegen, dass die erziehungsberechtigen Personen fester Bestandteil der Schulfamilie und präsent in Elterncafés sind. Eine Parallele ist hier zum Ansatz der Elternschule und des Elterncafés in der Grundschule in Frankreich zu sehen.

Wie auch in Deutschland werden Eltern in Dänemark von den schulischen Akteur*innen stets als „Teil der Lösung“ gesehen. Die dänischen Lehrkräfte gehen davon aus, dass Eltern verstehen müssen, worüber gesprochen wird und setzen jederzeit Dolmetscher*innen für gemeinsame Gespräche ein. Darüber hinaus setzen sie eine Vielzahl an Medien ein, um einen direkten Kontakt zu den Erziehungsberechtigten herzustellen.

Vergleich Multiprofessionalität

In Dänemark sind kommunale Netzwerk-Vertreter*innen direkt in der Schule angesiedelt, z.B. durch die Berufsberatung. Wöchentliche Team-Besprechungen sowie mehrere Netzwerktreffen im Jahr in unterschiedlichen Konstellationen verweisen auf eine zielorientierte Institutionalisierung der Kooperationen sowie arbeitsteilige und verzahnte Zuständigkeitsbereiche.

Demgegenüber stehen in Frankreich eher informelle Kommunikationsformen zwischen den Professionen ohne regelmäßige Teamsitzungen. Lange Arbeitstage durch die Ganztagsschule als Regelmodell bieten genügend Zeitfenster für den Austausch. In Deutschland erfolgen strukturierte und netzwerkorientierte Kooperationen vor allem zwischen den Schulsozialarbeiter*innen. Erkennbar ist in Deutschland ein Spannungsverhältnis zwischen Wertschätzung von und Zuweisung von Aufgabenbereichen an Schulsozialarbeiter*innen durch Lehrkräfte. Es lässt sich eine Abstufung ableiten von einem geringen Grad schulischer multiprofessioneller Kooperation in Frankreich, Entwicklungsbedarf in Deutschland und gelingender multiprofessioneller Kooperation in Dänemark.

Vergleich Anerkennung von Mehrsprachigkeit (vgl. Beitrag von Adina Küchler-Hendricks)

Die Anerkennung der Mehrsprachigkeit zeigt sich in Frankreich und Dänemark in ausgeprägterem Maße als in Deutschland, – dies sowohl im Umgang mit der Verwendung der Erstsprache durch Schüler*innen als auch durch ihre Erziehungsberechtigten. Die Aberkennung der Herkunftssprache durch Bestrafungen nach Nutzung im Unterricht erfolgt der Studie zufolge ausschließlich in Deutschland (Baur/Küchler-Hendricks 2020).

Fazit

Für die Neuzuwanderung in der Migrationsgesellschaft wird vom Ort Schule besondere Veränderung verlangt. Im europäischen Vergleich wird sichtbar, was Schulen in Deutschland aus den europäischen Nachbarländern Frankreich und Dänemark lernen können:

Migration wird in Frankreich und Dänemark als Normalfall betrachtet. Die gesellschaftliche Integration der Geflüchteten wird als allgemeine gesellschaftspolitische und fachkräftespezifische Aufgabe gesehen. Die Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen stellt eine akzeptierte Ressource im Unterrichtsalltag dar. Organisatorisch erfolgt in Frankreich von Anfang an eine Zuordnung der Neuzugänge in eine Regelklasse und die sukzessive Eingliederung von der Basis der UPE2A (Sprachlernklasse), vergleichbar mit den dänischen Recieving Classes, von denen ebenfalls der Übergang in eine Regelklasse gesichert ist. In Frankreich können die Eltern über ihren Bildungswillen ausgedrückt über die kontinuierliche Beschulung ihrer Kinder einen gesicherten Aufenthaltsstatus erlangen. Der französische Weg, ethnische, kulturelle und religiöse Konflikte über das Laizitätsgebot zu vermeiden, um staatsbürgerliche Rechte durchzusetzen, ist ein diskutabler Ansatz für deutsche Schulen. Die sowohl in Deutschland als auch in Frankreich feststellbaren Segregationsprozesse an Schulen zeigen am Beispiel der Sprachlernklasse des Collège in Frankreich, dass eine gezielte Ansiedelung von Sprachlernklassen mit einer parallelen Eingliederung in die Regelklassen an sozioökonomisch starken Schulen die Schule zu einem sicheren Ort werden lässt. Damit wird gesellschaftliche Teilhabe und eigenständige Lebensführung nähergebracht (vgl. Baur 2020).

In Dänemark unterstützt eine starke Willkommenskultur das gelebte Konzept „Schule als sicherer Ort“ und die befragten Schulmitglieder fokussieren auf die UN-Kinderrechtskonvention. Diese findet in der deutschen Erhebung keine Erwähnung, gleichwohl an niedersächsischen Schulen multiprofessionelle Kooperationen auf den Aufbau von Netzwerkstrukturen zwischen Schule und außerschulischen Bildungs- und Kulturangeboten sowie der Polizei und dem Jugendamt zielen. Im europäischen Vergleich schulischer Integration zeigt sich damit, dass nicht nur personell, finanziell und materiell gesicherte Ressourcen durch die Kommunen bereitgestellt werden müssen. Gleichzeitig ist ein menschenrechtsbasierter Ansatz in Pädagogik und Verwaltung auf Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention vonnöten, um den von den befragten Personen beschriebenen Herausforderungen angemessen begegnen zu können. In Dänemark werden dazu beispielsweise Lehrkräfte in anerkennender Beziehungsgestaltung zu den Schüler*innen durch Schulpsycholog*innen geschult. Es ist zu diskutieren, inwiefern diese Aufgabe in der Aus- und Weiterbildung an Hochschulen modular zu verankern ist.

Literatur

Baur, Christine (2020): Integration von geflüchteten Schüler/innen durch Bildung – Impulse aus Frankreich. In Kolhoff, Ludger (Hg.), Aktuelle Diskurse in der Sozialwirtschaft III. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 161-179.

Baur, C.; Küchler-Hendricks, A. (2021): „Außer Deutsch darf keine Sprache in diesem Unterricht gesprochen werden“ – Sprache und Heterogenität im deutschen Schulsystem“. Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung 3, 1/2021, 70-82.

Schulze, E.; Spindler, S. (2017): Schule als sicherer Ort. Flucht als Herausforderung für Soziale Arbeit in der Schule. In: Die Deutsche Schule 109 (3), S. 248–259.