Zusammenfassung zum Vortrag von Prof. Dr. Thomas Geisen

Zugehörigkeit im Kontext von Migration

In einer „Gesellschaft der Individuen“ (Elias 1987) haben Fragen von Zugehörigkeit eine besondere Bedeutung. Denn „die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten sozialen Überlebenseinheit“ (Elias 1987, S. 245) stellt ein „spezifisches Gepräge“ dar, ein „sozialer Habitus der Individuen“, den er „mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt“ (Elias 1987, S. 244). Auf der Grundlage dieses Habitus wachsen „diejenigen persönlichen Merkmale“ heraus, „durch die sich ein einzelner Mensch von anderen Mitgliedern seiner Gesellschaft unterscheidet“ (Elias 1987, S. 244).

Für Elias ist „bei Angehörigen einer Gesellschaft auf der Entwicklungsstufe eines neuzeitlichen Staates der Ausdruck ‚Nationalcharakter‘“ als „Ich-Wir-Identität […] integrale[r] Bestandteil des sozialen Habitus eines Menschen und ist als solcher der Individualisierung zugänglich“ (Elias 1987, S. 245). In Migrationsgesellschaften werden Fragen gesellschaftlicher Zugehörigkeit und damit auch Ich-Wir-Identitäten pluralisiert und es entstehen neue, vielfältige Formen ambivalenter Zugehörigkeit.

In der Migrationsforschung findet diese Vielfalt ihren Niederschlag in einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas 1985) an Begriffen und Konzepten, die im Rahmen von empirischer Forschung von und der Auseinandersetzung mit Migrationsgesellschaften verwendet werden. Hierzu gehören etwa Forschungsarbeiten zur ersten Generation von Einwandernden (Treibel 2003), zum „Migrationshintergrund“ und zur „Zweiten Generation“ (Boos-Nünning/Karakasoglu 2006; Fibbi/Efionayi 2008; Riegel/Yildiz 2011), zu „Migrationsgeschichte“ und „biografischer Migrationserfahrung“ (Hamburger 2009), zu „Transmigration“ als neuem Sozialraum (Pries 2010), und „Transkulturalität“, die auch als „Hybridität“, „dritter Raum“ oder als „transversal“ bezeichnet wird (Allolio-Näcke/Kalscheuer 2008; Hall 2018; Hoerder/Hébert/Schmitt 2005).

Im Zusammenhang mit diesen Debatten entstehen einerseits Bedarfe der Neu-Ordnung des grundlegenden Verständnisses von Migration selbst, um die Pluralität des Migrationsgeschehens in modernen Gesellschaften, die sich den klassischen, zeitlichen und räumlichen Ordnungsparadigmen der Migrationsforschung (Han 2010; Treibel 2003) offenbar vor dem Hintergrund von weltweit wachsenden, globalen Zusammenhängen und Verflechtungen einer eindeutigen Festlegung entziehen.

Dabei wird Migration beispielsweise neu und grundlegend als ein Prozess verstanden, der das Ziel einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes in eine andere politische Gemeinde verfolgt (Moch 1997, S. 43); es wird die Forderung erhoben, den Migrationsbegriff durch den Begriff der „Mobilität“ zu ersetzen (Berding/Bukow 2020); oder auch vor allem das Konzept der „Multilokalität“ (Reuschke 2010) zu verwenden. Insbesondere im deutschsprachigen Raum hat der Diskurs um „Postmigration“ (Hill/Yildiz 2018), wie er seit den 1990er Jahren entstanden ist, an Bedeutung gewonnen. Im Zentrum dieser Debatte steht die Kritik am Migrationsbegriff, der eine Sonderstellung von eingewanderten Personen verstetige, zum Teil über Generationen hinweg, und damit bestehende Ausgrenzungen verstärke und die in den alltäglichen Zusammenhängen längst bestehenden Zugehörigkeitsformen negiere. Die Auseinandersetzungen und Debatten zeigen, dass traditionelle Vorstellungen von Gesellschaften als Nationalstaaten (Greenfeld 1993; Winkler 1985) vermehrt in Bewegung geraten.

Denn konzeptionell gelingt es im Rahmen nationaler Vorstellungen von Vergesellschaftung kaum ausreichend gut, heutige Migrationsformen innerhalb von Gesellschaften und gesellschaftsübergreifend zu verstehen (Geisen 2015). Während im Nationalstaat die Aufnahme von Neuankommenden im Rahmen von Migration im Gegensatz zur Vorstellung von Nation als Einheit von Volk und Territorium steht, so eröffnet erst eine republikanische Vorstellung von Staat und Gesellschaft Aufnahmemöglichkeiten für Neuankommende. Denn für ein republikanisches Verständnis von Demokratie ist die Veränderung von Gesellschaft konstitutive Grundlage, während im Verständnis von Nationen gesellschaftliche Veränderungen als Ausnahme angesehen werden, und zwar insbesondere auch durch Migration entstehende Veränderungen.

In der Realität finden wir heute vielfach Mischformen von Staaten vor, die sowohl nationalstaatliche als auch republikanische Elemente in sich vereinen. Gleichwohl ist die national-kulturelle Vorstellungswelt von Nationalstaaten, Elias spricht hier vom „Nationalcharakter“ (Elias 1987, S. 244), immer noch kaum ausreichend auf die aktuellen Bedingungen von Migrationsgesellschaften ausgerichtet, in denen Migration als individuelle und gesellschaftliche Normalität wahrgenommen wird. Die Frage der Zugehörigkeit wird unter solchen gesellschaftlichen Bedingungen auf unterschiedliche Weise diskutiert. Im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Vorstellungswelten in den klassischen Einwanderungsändern wird der Diskurs um „Belonging“ (Castles/Davidson 2000) als individueller und sozialer „Aushandlungsprozess“ (Hoerder 2002) beschrieben, während in Staaten mit stärkerer nationalstaatlicher Prägung der soziale Zusammenhalt oder die „social coherence“ (Vertovec 1999) im Zusammenhang mit Migration stärker in den Vordergrund treten. Unabhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Grundprägung, wird in heterogenen Gesellschaften mit andauernder und vielfältiger Migrationsgeschichte der Bedarf an neuen Formen von „Ich-Wir-Identitäten“ (Elias 1987, S. 245) sichtbar, die seit den 1960er Jahren vor allem in den Diskursen um Identität und Identitätspolitiken geführt werden (Geisen 2004; Geisen 2008). In der Migrationsforschung rücken daher vor allem Konzepte von Zugehörigkeit in den Fokus, die soziale Positionierung im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdzuschreibungen wahrnehmen (Geisen 2007), die Herstellung von Zugehörigkeit als Resultat eines Aushandlungsprozesses ansehen (Yuval-Davis 2011), und Zugehörigkeit emotional mit subjektivem Wohlbefinden und Freude verbinden (Korteweg/Yurdakul 2016). In diesem Zusammenhang wird die Entstehung von Zugehörigkeit in der Migrationsforschung insbesondere als eine aktive, gestaltende Tätigkeit von Migrantinnen und Migranten beschrieben, unter anderem als „Zugehörigkeitsarbeit“ (Mecheril 2003), als „Kampf um Zugehörigkeit“ (Riegel 2004) und als „Making Home“ (Boccagni 2017; Leung 2004).

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass es in modernen Migrationsgesellschaften zur Pluralisierung von Zugehörigkeitsformen kommt. Diese sind ein zentrales Kennzeichen moderner Gesellschaften, werden aber vielfach in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen noch unzureichend als solche wahrgenommen. Eng verknüpft mit der Pluralisierung ist die Tatsache, dass Zugehörigkeit zu einer individuellen und sozialen Gestaltungsaufgabe geworden ist. Damit kann sie sozial-kulturell nicht mehr als selbstverständlich betrachtet werden, sondern sie muss individuell und sozial aktiv hergestellt werden und stellt eine von vielen als neu wahrgenommene gesellschaftliche Herausforderung dar. Die Ambivalenz von Zugehörigkeit als existentieller Form menschlicher Existenz, in der die je spezifische Ich-Wir-Konfiguration individuell und gesellschaftlich hergestellt wird, zeigt sich vor allem im Kontext von Migration. Denn durch die Neuankommenden entstehen neue individuelle und gesellschaftliche Bedarfe Zugehörigkeiten neu auszuhandeln, und zwar sowohl für Migrantinnen und Migranten als „Außenseiter“ als auch für diejenigen, die als „Etablierte“ (Elias/Scotson 1993) bereits länger in der jeweiligen Gesellschaft leben.

Bestehende Ich-Wir-Konfigurationen der Zugehörigkeit werden dadurch einem Veränderungsdruck unterworfen, auf den Individuen und Gesellschaften vielfach sehr unterschiedlich reagieren können, zum Teil werden daraus resultierende Veränderungen als Bedrohung erfahren, auf die mit Abwehr, Angst und Gewalt, um bestehende Identifikationen weiter aufrechterhalten zu können (Mergner 1998, S. 135ff.). Auch professionelles Handeln ist durch diese Entwicklung auf besondere Weise herausgefordert. Denn zur Bearbeitung von kontinuierlich sich verändernden Herausforderungen im Kontext von Migration sind stets neue, veränderte Fähigkeiten und Kompetenzen in der professionellen Interaktionsarbeit erforderlich. Professionalitätsentwicklung ist daher zwingend auf die iterative Gestaltung von professionellen Lern- und Bildungsprozesses angewiesen, um einen aktiven Beitrag zur Ausbildung von „multicultural conviviality“ (Back/Sinha 2018; Gilroy 2005) leisten zu können.