Retrospektiven

Studentische Gruppenarbeiten bringen Konfliktpotential mit sich. Studierenden fehlen dabei häufig Kenntnisse, wie Probleme im Team kommuniziert und gelöst werden können. Oft mangelt es in Lehrveranstaltungen auch an ausreichend Zeit und Raum, um Konflikte oder Herausforderungen in der Gruppenarbeit analysieren und beheben zu können. Retrospektiven können hierfür einen strukturierten und zeitlich gut definierten Rahmen bieten. und eine offene, konstruktive und wertschätzende Feedbackkultur in Lehrveranstaltungen etabliert werden, damit Fehler als Lernchancen begriffen und Entwicklungsmöglichkeiten in den Vordergrund gerückt werden können.

Die Durchführung von Retrospektiven kann die Gruppenprozesse nachhaltig verbessern. Sie dienen dazu, rückblickend im Studierendenteam auf den Lernprozess und die Zusammenarbeit im Team zu schauen und zu analysieren, warum Dinge gut liefen oder von Erwartungen abwichen, um so Maßnahmen zur Verbesserung der kollaborativen Lern- und Arbeitsprozesse zu formulieren und anzugehen. Kurz gesagt: Retrospektiven helfen den Studierendenteams dabei, ihre Zusammenarbeit zu reflektieren (inspect) und weiter zu verbessern (adapt).

Darüber hinaus können die Studierenden auch persönliche Entwicklungspotentiale erkennen und somit lernen sie ihren individuellen Lernfortschritt besser zu reflektieren und zu steuern. Nicht zuletzt erhalten auch Lehrende durch die Begleitung oder Auswertung der Retrospektiven mehr Transparenz und können gegebenenfalls Anpassungen ihrer Lehrveranstaltung vornehmen oder moderierend unterstützen.

Zusatzinformation:

Retrospektiven sind ein elementarer Bestandteil der agilen Lehre. Gerade wenn Studierendengruppen selbstorganisiert lernen, ist das Reflektieren über die Zusammenarbeit von großer Bedeutung. Hierin zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied zu anderen Lehr-/Lernsettings mit Gruppenarbeiten.

Bei Scrum in der Lehre werden Retrospektiven als festes Element am Ende eines Sprints durchgeführt.

Wie werden Retrospektiven durchgeführt?

Retrospektiven können in Präsenz und digital durchgeführt werden. Die Studierenden bleiben dabei in den Teams, in denen sie vorher zusammengearbeitet haben und führen in der Regel eigenständig die Retro durch und dokumentieren die Ergebnisse z.B. auf einem digitalen Whiteboard, so dass der/die Lehrende diese einsehen kann. Dies kann sowohl während der Lehrveranstaltung, als auch in Teamsitzungen außerhalb der Veranstaltungszeit erfolgen.

In der Lehre hat sich auch ein zweistufiges Verfahren bewährt, in welchem zuerst die Teams intern eine Retrospektive abhalten und anschließend die Lehrperson im Plenum eine (Gesamt-) Retrospektive mit allen Studierenden des Kurses moderiert, welche die Ergebnisse der Teamretros zusammenbringt, darauf aufbaut oder auch darüber hinausgehende Fragen thematisiert.

Wer moderiert eine Retrospektive?

Normalerweise führt eine Person das Teams als Moderator*in durch eine Retrospektive. In der Regel wird die Retrospektive vom Studierendenteam eigenverantwortlich durchgeführt, wobei ein Gruppenmitglied die Moderation übernimmt. Wer moderiert, kann entweder die Gruppen selbst entscheiden oder die Lehrperson festlegen. Ebenso kann variiert werden, ob ein Gruppenmitglied immer moderiert oder ob die Moderation in der Gruppe wechselt. Im Lehrkontext kann es unter Umständen (z.B: aufgrund mangelnder Vorerfahrung der Studierenden) sinnvoll sein, dass die Lehrperson als Moderator*in die erste Retrospektive in einem Semester anleitet.

Zusatzinformation:

Eine Ausnahme stellen hier die im Rahmen des Projekts „Agile Methoden in digitalen Lehrveranstaltungen“ (AGGIT) entwickelten Retro-Boxen dar, bei denen die Studierendenteams mithilfe eines detaillierten Leitfadens die Retrospektive eigenständig durchlaufen und keine Moderation notwendig ist. (Nähere Informationen dazu finden Sie in Kürze hier.

Wie lange dauern Retrospektiven?

Die Gesamtzeit, die Lehrende einer Retrospektive einräumen, kann je nach Lernziel, Bedarf und zeitlicher Ressourcen variieren.

  • Schnelle Retrospektiven, die sich vor allem auf die Durchführung eines Retroformats (wie z. B. Sailboat Retro, Starfish Retro, 4L Retro etc.) begrenzen und damit Reflexionsprozesse bei den Studierenden anstoßen sollen, dauern 20 bis 30 Minuten.
  • Es ist aber auch möglich, Retrospektiven zeitlich mehr Raum (z. B. 60 bis 90 Minuten) zu geben, um beispielsweise gezielt Herausforderungen, die sich bei einzelnen Teams im Verlauf des Arbeitsprozesses oder aber auch bei der Kommunikation und Kooperation ergeben haben, zu analysieren, dafür gemeinsam Lösungsideen zu erarbeiten und ein weiteres Vorgehen zu vereinbaren. Gerade wenn die Teams über ein ganzes Semester zusammenarbeiten, Futur Skills wie Kooperation und Kommunikation als Lernziele im Fokus stehen oder Probleme bei der Teamarbeit aufgetreten sind, kann dieses Vorgehen gewinnbringend sein. (Hier finden Sie mehr Informationen zum Ablauf solcher „großen“ Retrospektiven in Lehrveranstaltungen.)

Timeboxing

Retrospektiven sind in der Regel zeitlich begrenzt. Mithilfe des sogenannten Timboxings werden für jeden Abschnitt der Retrospektive Zeitblöcke festgelegt. Ebenso wird die Gesamtdauer der Retrospektive begrenzt. In dieser Zeit müssen die Aufgaben erledigt sein.

Ein solches Timeboxing führt dazu, dass eine Reflexion im Team trotz begrenzter zeitlicher Ressourcen ermöglicht wird. Das Team wird dadurch veranlasst, die Zeit effektiv zu nutzen, fokussiert zu diskutieren und sich nicht in Details oder Meinungsverschiedenheiten zu verlieren. (Hier finden Sie weitere Informationen zur Verwendung von Timeboxing.)

Was kann helfen die für Retrospektiven notwendige offene Diskussions- und Fehlerkultur zu schaffen?

Um die für eine Retrospektive notwendige offene Diskussions- und Fehlerkultur zu etablieren, bedarf es einer wertschätzenden und zugleich vertraulichen Atmosphäre. Nur innerhalb eines „geschützten Raumes“ kann sich die Bereitschaft aller Teilnehmenden entwickeln, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, konstruktive Kritik zu äußern und Fehler als Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten zu begreifen. Aus diesem Grund kann es helfen, bei der Einführung von Retrospektiven in Vorlesungen die folgenden beiden Regeln zu erklären:

Vegas Regel:

„Was in Vegas passiert, bleibt in Vegas!“

Was das Team miteinander bespricht, bleibt vertraulich. Sollen Externe (z. B. auch die Lehrperson) informiert oder zu Rate gezogen werden, so einigen sich die Teammitglieder gemeinsam darauf, welche Informationen nach außen getragen werden und welche nicht. Sind über das Semester hinweg mehrere Retrospektiven geplant, so kann es hilfreich sein, die Vegas Regel vor jeder Retrospektive kurz ins Gedächtnis der Studierenden zu rufen. Hierzu kann z. B. die Regel für alle sichtbar im Raum oder auf einem digitalen Whiteboard platziert werden.

„Oberste Direktive“ (Prime Directive[1]):

„Wir gehen davon aus, dass alle Beteiligten das Beste getan haben, was sie zu jenem Zeitpunkt vor dem Hintergrund ihres Wissens, ihrer Fähigkeiten, der vorhandenen Ressourcen und der gegebenen Situation tun konnten.“

Die „oberste Direktive“ dient dazu, dass sich die Teammitglieder vornehmen Kritik nicht an einer Person zu äußern, sondern sich auf Lösungen für Herausforderungen zu konzentrieren. So soll verhindert werden, dass die Gruppenmitglieder nach Schuldigen für Scheitern oder Probleme suchen oder gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigen.

Zusatzinformation:

Gerade in der dritten Phase einer Retrospektive, in der es darum geht, die Ursachen für Herausforderungen zu finden, kann es sehr hilfreich sein, die goldene Regel noch einmal vorzulesen, bevor das Team mit der Analyse beginnt. So kann gemeinsam in der Gruppe der Fokus auf die Analyse und Veränderung der drei Faktoren Wissen, Fähigkeiten und Umfeld (Ressourcen und Situation) gelegt werden: Sind beispielsweise Fehler entstanden, weil Teammitglieder nicht genug Wissen über Prozessabläufe oder Verantwortungsbereiche hatten, könnte die Kommunikation transparenter gestaltet werden. Mangelt es an Fähigkeiten oder Grundlagenwissen, so könnte überlegt werden, wie diese möglichst schnell gelernt werden können. Fehlende Ressourcen können für die Zukunft beschafft werden und bei Einflüssen aus dem Umfeld kann das Team versuchen diese zu reduzieren oder fortan bei der Teamarbeit zu beachten.

Das Vorstellen der „obersten Direktive“ ist eine Methode, um eine offene Feedbackkultur zu thematisieren. Dies kann aber auch auf andere Weisen erreicht werden. So könnte stattdessen beispielsweise Working Agreements, die sich das Team zuvor erarbeitet hat, genutzt oder allgemein über Regeln gesprochen werden, wie man konstruktiv und wertschätzend Feedback geben kann.

Für die „Vegas Regel“ und die „Oberste Direktive“ kann die Vorlage (oberste Direktive und Vegas Regel) online zur Verfügung gestellt oder ausgedruckt werden. (LINK folgt)

Check-in Fragen

Eine weitere Möglichkeit wäre auch mit einer Check-In Frage in die Retro zu starten, um es den Teilnehmenden zu ermöglichen, als Mensch anzukommen und ihre Aufmerksamkeit auf die Retrospektive zu lenken.


Hier finden Sie mehr Informationen zum Ablauf von Retrospektiven.

Hier finden Sie (in Kürze) eine Übersicht ausgewählter Retroformate, und Beschreibungen, wie diese im Lehrkontext eingesetzt werden können.


[1] Vgl. hierzu Norman Kerth (2001): „Regardless of what we discover, we understand and truly believe that everyone did the best job they could, given what they knew at the time, their skills and abilities, the resources available, and the situation at hand.“


weiterführende Literatur und Links zu Retrospektiven:

Norman L. Kerth, Project Retrospectives: A Handbook for Team Reviews, Dorset House Publishing, 2001.

Esther Derby, Diane Larsen: Agile retrospectives: Making good teams great, 2006.

Judith Andresen: Retrospektiven in agilen Projekten: Ablauf, Regeln und Methodenbausteine, München 2017.

https://retromat.org/de/ (Stand 01.11.2023)